Braunschweig. Ob Wagner oder Eintracht: Die ehrenamtlichen Sehbehinderten-Reporter bieten einen besonderen Service an – die akustische Bildbeschreibung.

Niedersachsen-Derby. Eintracht Braunschweig gegen Hannover 96. Das Stadion rappelvoll. Auf der Westtribüne freut sich die 28-jährige Lisa auf das Spiel. „Wir müssen auf alle Fälle gewinnen,“ sagt sie und wird recht behalten. Seit zwölf Jahren ist sie der Eintracht treu, lässt kaum ein Heimspiel aus. Die Gesänge, die Spannung, das Auf und Ab der Gefühle – diese ganze „total gute Atmosphäre“ empfindet sie leidenschaftlich mit. Nur das Spiel selbst würde ihr ohne die Ehrenamtlichen im Stadion-Olymp entgehen. Lisa ist blind.

Die Sehbehinderten-Reporter Paul Beßler, Fred Lorenz, Marcel Czempiel, Lars Vickendey und Manfred Wildhage ermöglichen gesellschaftliche Teilhabe im Stadion ebenso wie im Theater. „Wenn du aufhörst zu reden, bin ich wieder blind.“ Dieser Satz, den ein Sehbehinderter einmal zu Paul Beßler sagte, gilt als Maxime für das Engagement der fünf Männer zwischen 29 und 77 Jahren.

Per Funkkopfhörer sind sie verbunden

In der obersten Reihe der Haupttribüne überblicken die Sehbehinderten-Reporter das gesamte Stadion. Heute sind Lars Vickendey und Marcel Czempiel mit Kopfhörern und Mikros im Einsatz. Lisa und die anderen sehbehinderten Fußballfans sitzen 30 Meter weiter unten gleich hinter der Trainerbank. Per Funkkopfhörer sind sie verbunden. Man kennt sich. Lisa, haben Sie einen Lieblingsreporter? „Die Frage ist fies“, lacht die 28-Jährige. „Alle machen es gut.“

Zwei Reporter wechseln sich während des Spiels immer wieder ab. „Einmal habe ich allein zwei Spiele hintereinander gesprochen. Danach war ich fix und fertig“, erinnert sich Paul Beßler. Der 77-Jährige ist Sehbehinderten-Reporter der ersten Stunde – ab 2003 beim VfL Wolfsburg, später bei der Eintracht, heute im Theater. „Du musst reden, reden reden.“

Die Ehrenamtlichen leisten mehr als Radioreporter

Und das tun sie. Mitschreiben? Mal wenigstens einen Satz des Eindrucks wegen? Hoffnungslos. Die Wörter sprudeln so schnell, wie der Ball übers Spielfeld gekickt wird. Die Ehrenamtlichen leisten mehr als Radio-Reporter. Sie verorten. Verbildlichen. Beschreiben Sekunde um Sekunde, wer wo genau gerade am Ball ist. Wie der Ball knapp über die Torlatte streift. Dass der Trainer wild gestikuliert. Dass in der 67. Minute die Fans ihre Schals in die Höhe halten. Und nicht erschrecken, gleich wabert Rauch herüber.

„Klar, wir leben das auch“, sagt Fred Lorenz. Denn ohne Fußball-Expertise und Begeisterung geht es nicht. „Man muss das Spiel schon grundsätzlich verstanden haben“, ergänzt Lars Vickendey, der als Kind davon träumte, Radioreporter zu werden, sich dann aber fürs Lehramt entschied.

Das Ehrenamt fordert Zeit. Fußball ist das eine. Das andere ist Theater. Oder Oper. „Aida“ auf dem Burgplatz. Nun Wagner. Oder die Gandersheimer Domfestspiele. Beim ersten Mal hat Paul Beßler sogar mitgesungen. „Lass das mal lieber“, wurde ihm zurückgemeldet.

Audiodeskription steht hier im Mittelpunkt

Vom eigenen Gesang also mal abgesehen, übersetzen die Reporter das Libretto, wenn’s auf der Opernbühne italienisch zugeht, sie studieren vorab Textbücher, sind bei Generalproben dabei, machen sich Notizen, wie sie das Bühnengeschehen für Sehbehinderte erlebbar machen können – ohne freilich störend in die Dialoge oder Arien hineinzusprechen. Wer tritt auf, wer tritt ab? Was für Stöckelschuhe! Woher kommt ein Geräusch? Audiodeskription heißt der Fachausdruck: die akustische Bildbeschreibung.

Jeder der Reporter hat seine Steckenpferde, Manfred Wildhage beschränkt sich zum Beispiel auf die Kultur, Lars Vickendey versteht sich als reiner Sport-Vermittler. Das muss nicht nur Fußball sein. Die Reporter sind für vieles offen. „Wir waren die weltweit ersten Reporter, die Leichtathletik für Sehbehinderte beschrieben haben“, sagt Beßler. Das war im Berliner Olympiastadion.

Menschen mit Behinderung werden unterstützt

Die Ehrenamtlichen beweisen, wie gelebte Inklusion geht. Fred Lorenz findet es wichtig, dass sich die Gesellschaft solidarisiert, dass Menschen etwas vom eigenen Glück abgeben. „Es gibt so viel, was wir Menschen mit Behinderungen ermöglichen könnten“ – von der Teilhabe an Tennis- oder Springreitturnieren bis zu Kulturevents. Manches allerdings scheitere an mangelndem Engagement von Veranstaltern und Vereinen. „Dabei müssen sie uns nur einen Platz und Strom bieten. Den Rest machen wir.“

Lorenz begleitete zum Beispiel jüngst beim Schoduvel einen Sehbehinderten, mit dem er auf einen Wagen eingeladen worden war – und erfüllte ihm damit einen großen Wunsch. „Er war fünf Stunden lang der glücklichste Mensch auf der Welt.“

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