Göttingen. „America first“: Das Deutsche Theater Göttingen zeigt Marilyn-Monroe-Musical.

Der Erfolg hat drei Säulen: Starke Darsteller, eine großartige Inszenierung und eine schonungslose politische Analyse. Das Musical „America first“ überzeugt in allen Belangen.

Die Uraufführung am Deutschen Theater Göttingen ist nicht nur der Blick auf eine der Ikonen der Pop-Kultur. Es ist zugleich eine Abrechnung mit den USA und das auf äußerst unterhaltsame Weise. Das Libretto von Christoph Klimke verzichtet durchweg auf den Zeigefinger.

Eine Platinblondine hockt sich in einen knallroten Pullover. Dieses Bild gehört zum kollektiven Gedächtnis und jeder weiß, dass die Frau Marilyn Monroe sein muss. „America first“ setzt im August 1962 ein. Seit der berühmten Fotosession mit Milton Greene sind sieben Jahre vergangen und aus der unbeschwerten Marilyn Monroe ist eine alternde Diva mit Depressionen geworden. Sie zitiert Ophelia und damit ist klar, dass hier bald gestorben wird.

Mit diesem Bild schafft Erich Sidler einen Einstieg, der zum einen die Fronten klärt, zum anderen durch die Anknüpfung an bekanntes Bildmaterial das Publikum einbezieht. Im Erfolg wie im Scheitern ist sie wohl die Filmikone des 20. Jahrhunderts.

Ikonen der 1950er und 1960er

Wie die Geister der vergangenen und zukünftigen Weihnacht tauchen Natasha Lytess und Gladys Pearl Baker auf. Die Schauspiel-Lehrerin soll sie auf die Theaterbühne bringen, das Verhältnis zur ungeliebten Mutter möchte sie endlich bereinigen. An der Kette aufgereiht tauchen alle jene Ikonen aus den USA der 1950er und 1960er Jahre auf. Doch der Fokus liegt auf dem Verhältnis der Monroe zu den beiden Kennedy-Brüdern John F. und Robert.

Spekulationen gibt es viel. Fakt ist, dass Marilyn Monroe am Morgen des 5. August tot aufgefunden wird, mit einer riesigen Menge Beruhigungsmitteln im Blut. Der Schlüssel zu den Geschehnissen liegt für Klimke und Sidler bei den Kennedys.

Eines macht die Inszenierung immer wieder deutlich. Norma Jean Baker war als Marilyn Monroe die erste selbst geschaffene Marke im Filmbusiness, aber die Kontrolle über ihre Person entglitt ihr zunehmend.

Dekonstruktion der Legende JFK

Das Psychogramm wird erweitert um die Dekonstruktion der Legende JFK. Immer wieder führen Klimke und Sidler vor, dass die Anzahl der Leichen in seinem Keller recht groß ist. Die These, dass die Herrschaft der Trumps nur die logische Konsequenz ist, gewinnt im Laufe der Aufführung an Plausibilität.

Regisseur und Autor pflegen eine deutliche Sprache. Die Euphemismen der Political Correctness sind nicht ihre Sache und das ist auch ganz gut so. Sie benennen klar und mit einem Zynismus, der an die Schmerzgrenze geht.

Es ist konsequent, dass Sidler in einem Musical über einen Filmstar die Mittel des Films aufgreift. Die Szenen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wechseln sich in harten Schnitten ab. Rückblenden und Vorwegnahmen ermöglichen eine anachronistische Erzählweise. Auf Realtheater folgen surrealistische Traumszenen, das Handeln auf der Bühne wird mit Video-Projektionen überblendet. Das gibt der Inszenierung Tempo und beschleunigt die Abfahrt auf der schiefen Ebene.

Der todgeweihten Diva stellt Sidler die junge Marilyn Monroe an diese Seite. Damit setzt er auf der epischen Ebene noch ein „Was wäre gewesen, wenn...“.

Szenen aus MM-Filmen

Aber mit Freude widmet er sich den Insignien des klassischen Musicals. Sogar Choreographie kann man mittlerweile am Deutschen Theater Göttingen. Mit diesen Mitteln baut Sidler frech und schmunzelnd Szenen aus MM-Filmen nach.

Genauso großartig ist auch das Bühnenbild von Florian Barth. Es vereint die Insignien des Luxus und der Armut gleichermaßen. Die Beleuchtung entscheidet über Glanz oder Elend. Zwei kahle Wände, zwei Betten, ein Fenster, dazwischen jede Menge Leere. Es ist einsam wie ein Gemälde von Edward Hopper.

Als musikalischer Leiter präsentieren Michael Frei and his Marvelous Mates jede Menge Swing. Eine Musikrichtung, die wie die Monroe Anfang der 1960er Jahre die besten Zeiten hinter sich hatte. Zweimal wird die Vorgabe durchbrochen. Kurz vor der Pause besingen Roman Majewski und Angelika Fornell ahnungsvoll den „River of no return“. Der Hit aus den Erfolgsjahren der Monroe kontrastiert hervorragend mit dem anschließenden Monolog der Einsamkeit. Fornell hat hier einen ihrer eindrucksvollsten Momente.

Der zweite Akt wird mit Bebop eingeläutet, hektisch und atemlos. Als der Vorhang sich hebt, entspinnt sich ein alptraumhaftes Kesseltreiben gegen die Monroe. Von hier aus gibt es keinen Return in ein vermeintliches Glück. Musikauswahl als Mittel der Dramatik.

Gesamtes Potenzial abgerufen

Ohne Frage ruft Angelika Fornell in dieser Aufführung ihr gesamtes Potenzial ab. Hoffnung, Liebe, Verzweiflung, Trotz und Depression. Sie bringt alles gleichermaßen auf die Bühne. Gekonnt ahmt sie die Gestik der Monroe nach, diese ständig jungmädchenhaft abgespreizten und verwinkelten Arme.

Mit der Stimme nährt sie immer wieder die Hoffnung der Monroe, als ernsthafte Schauspielerin anerkannt zu werden. Genauso deutlich macht sie, warum dieses Ansinnen zum Scheitern verurteilt war.

Moritz Schulze als First Lady Jackie Kennedy ist ihr ebenbürtig und Widerpart zugleich. Er gibt jenem schmerzhaften Zynismus die passende Stimme und mit seiner Gestik verleiht er der Überheblichkeit des Etablissement die nötige Präsenz, die die Grenze zur Karikatur überschritten hat.

Das Aufeinandertreffen der Monroe und der Präsidentengattin auf dem Straßenstrich von Los Angeles hat eine nicht zu übersehende Aussage: Eigentlich prostituieren sie sich beide, nur die eine macht es erfolgreicher.