Göttingen. Arthur Millers Stück „Ein Blick von der Brücke“ feierte Premiere am Deutschen Theater in Göttingen.

Das ist eines der stärksten Stücke am Deutschen Theater in Göttingen in dieser Spielzeit. Am Freitag stand die Premiere von Millers „Ein Blick von der Brücke“ auf dem Spielplan.

Die Inszenierung von Ingo Berk überzeugt in allen Belangen. Sie ist eine Reise in die Vergangenheit, ein Statement über die Gegenwart und eine Prognose zur Zukunft zugleich.

Zum Inhalt

New York in den 1950er Jahren. Der Hafenarbeiter Eddie Carbone und seine Frau Beatrice wohnen mit ihrer verwaisten Nichte Catherine im Hafenviertel Red Hook. Die italienischen Einwanderer der zweiten Generation leben in sicheren, aber bescheidenen Verhältnissen. Oberflächlich ist Eddie um den gesellschaftlichen Aufstieg des Ziehkindes bemüht. Er wacht als strenger Ersatzvater über sie, heimlich begehrt er die frühreife 17-Jährige.

Es ist eine fragile Konstellation, die in sich zusammenbricht, als Marco und Rodolfo ins Spiel kommen. Beatrice Cousins wurden von Schleppern nach New York geschleust. Sie wollen dem Elend in Sizilien entgehen und müssen sich als Illegale vor den Behörden verstecken. Als sich Rodolfo und Catherine ineinander verlieben und heiraten wollen, nimmt das Unglück seinen Verlauf. Eddie verstößt gegen die ungeschriebene Gesetze der italienischen Gemeinschaft in New York. Er verrät den Nebenbuhler an die Einwanderungsbehörde und muss dafür den Königstod sterben.

Millers „Blick von der Brücke“ ist ein Paradebeispiel der klassischen Moderne mit einer deutlichen Prise episches Theater. Aber genau genommen ist es ein Werk, das alle Zutaten einer griechischen Tragödie beinhaltet. Die Ausgangslage ist wackelig und wird mit Mühen in Balance gehalten, ein wenig Elektra kommt dazu und der deutliche Verweis auf den Inzest. Neue Figuren auf der Bühne verursachen eine Schieflage, der Verstoß gegen die Gesetzmäßigkeiten bringt den Stein ins Rollen, der Mensch verliert die Kontrolle und die Schussfahrt auf der schiefen Ebene endet letal.

Einzelne Rollen

Anwalt Alfieri gibt die Einleitung, ist der Kitt zwischen den Szenen und darf den Epilog sprechen. Mit dem Verweis auf Siziliens gebrochenes Verhältnis zu Recht und Gerechtigkeit seit den Zeiten der Griechen und Römer macht er den Ewigkeitsanspruch deutlich.

„Ein Blick von der Brücke“ auf die Flüchtlingsfrage zu reduzieren, wird dem Stück nicht gerecht. Es geht auch um Fehlverhalten und Rache, um Adoleszenz und Loslösung, Wahrheit und Kompromiss, und um die zerstörerische Kraft der Eifersucht.

Paul Wenning wirkt als Anwalt Alfieri ein wenig wie ein Sam Spade der Juristerei, abgeklärt und ahnungsvoll, hilfsbereit aber distanziert, wissend um die Regeln der Gruppe immer am Rande der Legalität, reduziert in Gestik und Mimik und mit der Stimme immer im grünen Bereich. Mit dieser Leistung überzeugt er.

Zum abgeklärten Wenning ist Florian Eppinger der belebende Kontrast. Sein Eddie Carbone ist von Coolness soweit entfernt wie Red Hook von Malibu Beach. Er bringt die innere Anspannung, die Zerrissenheit mehr überragend auf die Bühne. Sein ganzer Körper steht 1 Stunde 45 unter Strom und in der Figur des Hafenarbeiters steckt jede Menge Körperlichkeit. Denn auch das machen Eppinger und Berk deutlich: Eddie ist als Hafenarbeiter selbst nur ein besserer Tagelöhner und steht an der Kante der Gesellschaft. Dem feingeistigen Rodolfo kann er nur Handfestes entgegensetzen.

Andrea Strube in der Rolle der Ehefrau Beatrice gewinnt im Laufe der Vorstellung immer mehr an Präsenz. Vom Heimchen am Herd wird sie zur Seherin, zur einzigen, die alle Schichten des Konflikts durchblickt. Diese Wandlung macht Strube mit Stimme und Gestik sichtbar. Folgerichtig offenbart sie die Ehekrise und genauso folgerichtig bringt sie die sexuelle Komponente der Tochter-Ersatzvater-Beziehung auf den wunden Punkt.

Die Inszenierung

Die Inszenierung von Ingo Berk ist rasant und treibend wie ein Song von Charlie Parker und todtraurig wie ein Solo von Chet Baker zugleich. Großen Anteil daran hat das überwältigende Bühnenbild von Damian Hitz. Als sich der Vorhang hebt, gibt er den Blick frei auf ein Sofa mit Gebrauchsspuren. Abgeschirmt ist die Spielfläche durch einen Wald von Eisenstreben, die Erinnerungen an die Brooklyn Bridge wecken. Viele Spots setzen die Backsteinwände in ein Spiel aus Licht und Schatten. Dies setzt Assoziationen mit der Architektur aus New Yorks stürmischen Zeiten frei.

Das Licht wird in dieser Inszenierung zum eigenständigen Teil. Es setzt nicht nur Akzente. Es zieht deutliche Grenzen zwischen den Spielflächen auf Vorder, Mittel- und Hinterbühne und trennt so die erzählerischen Ebenen.

„Ein Blick von der Brücke“ fasziniert durch seine erzählerische Dichte. Arthur Miller verknüpft unterschiedliche Fäden zu einem Handlungsstrang. Berks Inszenierung macht die Kett- und Schussfäden sichtbar, ohne dem Werk etwas von seiner Rasanz zu nehmen. Innerhalb von 1:45 Stunde schafft er einen Kosmos und lässt ihn gleich wieder einstürzen. Die Betrachtung erfolgt aus mehreren Perspektiven und das Motiv des Verlustes in all seiner Vielfältigkeit durchzieht die Aufführung.

„Ein Blick von der Brücke“ ist nicht einfach ein Trauerspiel über illegale Arbeitskräfte. Miller bringt hier Amerikas großes Thema der 1950er und 1960er Jahre auf die Bühne: Das Verhältnis von Ingroup und Outgroup. Es geht um das Dazugehören wollen, um die Regeln des Spiels und um die Angst, ausgestoßen zu werden. Dieses Thema ist wieder ganz gegenwärtig und wird Bestand haben, das ist der Blick nach vorn.