Braunschweig. Gerhard Trommer bringt in der Werkschau Natur und Kunst zusammen. Warum seine Werke heute anders aussehen als vor 50 Jahren.

Zwei Fotos zeigen einen Ausstellungsraum, einmal bevor und einmal nachdem ihn die Museumsbesucher betreten haben. Vorher wechseln sich schwarze und weiße Streifen aus Staub auf dem Boden und an den Wänden ab. Nachher haben unzählige Schuhe den Staub durch den Raum getragen, statt schwarz und weiß herrscht ein diffuses Grau vor, und die Wände sind über und über mit Graffiti bemalt. Das hat etwas Anarchistisches, etwas Wildes. Für Gerhard Trommer bedeutet dieser Anblick einen Schlüsselmoment in seinem Schaffen.

Die beiden Fotos sind einander in der Torhausgalerie des Botanischen Gartens in Braunschweig, die derzeit eine Werkschau Trommers zeigt, gegenübergestellt. Der Raum entstand anlässlich einer Ausstellung zwischen zwei Ausgaben der Documenta im im Kasseler Fridericianum im Jahr 1969. Der Wolfsburger Künstler Trommer hatte sich mit der Mondlandung beschäftigt und wollte den Besuchern das Erlebnis nahe bringen, als erste eine Spur im Staub zu hinterlassen. Doch das Ergebnis seines Experiments ging über seine Erwartungen weit hinaus.

Die Fotomontage zeigt den Kasseler Raum von Gerhard Trommer vor (unten) und nach der Publikumsintervention.
Die Fotomontage zeigt den Kasseler Raum von Gerhard Trommer vor (unten) und nach der Publikumsintervention. © FMN | Bernward Comes

Ausstellung in Braunschweig zeigt Experimentierkästen mit Pigmenten

„Ich war begeistert“, erzählt Trommer mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Funkeln in den Augen. „Was die Besucher geschaffen hatten, hätte ich nie selbst schaffen können. In dem Moment habe ich begriffen, dass das Material seine eigene Freiheit hat. Man kann es nicht festhalten, ebenso wenig wie man einen Moment festhalten kann.“ Er orientierte sich um: Hatte er zuvor nach festen Regeln bestimmte Farben auf Streifenbildern kombiniert, gab er sein Werk jetzt dem Zusammenspiel – und Eigensinn – von Material und Zeit preis.

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In der Torhausgalerie zeigt Trommer einige Experimentierkästen, die diesem Prinzip folgen. Sie ergaben sich aus dem Denkprozess, den das Kasseler Erlebnis in ihm ausgelöst hatte. Dafür schüttete Trommer verschiedenfarbige Pigmente mit Watte, Asche, Sand oder anderen Materialien in einen Holzkasten mit Glasfenster. Und überließ sie sich selbst. „Ich habe die Kästen nicht geschüttelt oder besonders bewegt“, sagt er.

Entstanden sind veränderliche Bilder aus Farben und Formen, die an Landschaften erinnern, aber nie nur eine Perspektive in sich festhalten. Sie erinnern manchmal an die scheinbare Willkür der abstrakten Kunst, manchmal an gemalte Farbfelder, die ineinander zerfließen. Wer lange genug hinschaut, sieht vielleicht ein Staubkörnchen seine Position verändern. Trommer geht es nicht um den Einfluss des Künstlers auf seine Kunst; sondern darum, welche Eigendynamik sie entwickelt.

Retrospektive in der Torhausgalerie Braunschweig: Veränderliche Bildnisse

Und das macht die Retrospektive in der Torhausgalerie so spannend. Die Werke, die zu sehen sind, stammen aus den 1960er und 1970er Jahren. Jeder Pigmentkasten ist seit Jahrzehnten sich selbst überlassen. Diese Ausstellung hätte vor 10, 20, oder 30 Jahren ganz anders ausgesehen. Während Trommer sein Kunstschaffen irgendwann in den 1980er Jahren beendete, machte seine Kunst einfach weiter. Darin liegt eine besondere Poesie: Vor allem, wenn man sich mit dem Menschen Gerhard Trommer näher beschäftigt.

"Gelbascher" heißt der Pigmentkasten von Gerhard Trommer aus dem Jahr 1973. © FMN | Eva Nick

Denn der gab seine Kunst nicht einfach so auf: „Ich hatte einfach immer weniger Zeit dafür. Die Wildnis hat all meine Zeit in Anspruch genommen.“ Nach einer Reise durch menschenleere Landschaften in den USA orientierte sich Trommer beruflich um. Fortan gab er als Umweltökologe mit einer Professur im Fachbereich Biowissenschaften an der Universität Frankfurt sein Verständnis davon, wie das Naturerlebnis das eigene Leben prägen kann, an Studierende weiter.

Künstler rebellierte gegen städtebauliche Maßnahmen in Wolfsburg

Und weil diese Erfahrungen und die Erforschung von Wildnis so eng mit Trommers Kunstverständnis verknüpft sind, stellt die Torhausgalerie auch gleich einige seiner Bücher in einer Vitrine aus. Kunst und Naturerleben gehören bei ihm zusammen. Und sie treffen sich in Trommers Fotomontagen von einigen seiner Werke aus der Post-Kassel-Phase. Die Ausstellung zeigt, wie der Künstler in den 1970er Jahren Streifen auf Straßen staubte oder Fotos von Autobahnen mit bunten Farbfeldern bedruckte. „Ich habe darunter gelitten, wie die Stadt Wolfsburg übermäßig Straßen und Infrastruktur geschaffen hat, auf Kosten der Natur“, sagt Trommer.

In Wolfsburg gehörte er für einige Jahre zu den Künstlern der „Schlossstraße 8“, einer Gruppe, die die Kunstszene in der VW-Stadt maßgeblich prägte. Mit seinen künstlerischen Eingriffen in den Städtebau wollte er rebellieren, und so kam es wohl auch an. „Man müsste die überbaute Moorvegetation wieder in die City bringen“, beschreibt er einen Entwurf aus dieser Zeit in den 1970er Jahren, „aber das wollte man nicht.“ Dabei wirkt diese Idee in der heutigen Zeit, in der Naturschutz eine viel größere Rolle spielt, noch relevanter.

Bis 28. April in der Torhausgalerie des Botanischen Gartens in Braunschweig. Mittwoch bis Freitag 14 bis 18 Uhr; Sonntag 11 bis 14 Uhr.

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