Braunschweig. 10 Thesen zu Matthias Ripperts Inszenierung des Ehedramas „State of the Union“ mit Tom Beyer und Lea Sophie Salfeld. Können die sich ab?

Erste These: Ein Staatstheater ist hoch subventioniert und muss deshalb auch anspruchsvolle Kunst zeigen, die sich auf dem freien Markt nicht behaupten könnte.

Zweite These: Gleichzeitig muss ein Staatstheater Kunst für alle machen, denn es wird ja auch von allen finanziert. Da darf es auch mal was Unterhaltsames servieren, ein Well-made play, wie „State of the Union“ von Nick Hornby. Das ist der britische Kultautor, der mit Romanen wie „High Fidelity“ (über Musik-Nerds), „Fever Pitch“ (über Fußball-Nerds) und „About A Boy“ (über Patchwork-Söhne und -Väter) zum Bestseller des tragikomischen Feelgood-Realismus wurde.

Dritte These: Das ist gar kein Well-made play

Dritte These: „State of the Union“, deutscher Titel „Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst“, ist eigentlich gar kein Well-made play. Sondern ein Hornby-Buch in Dialogform, aus dem Regisseur Stephen Frears 2019 eine britische TV-Serie entwickelte. Matthias Rippert inszeniert es nun auf der Bühne des Großen Hauses, wie im Original in zehn rund zehnminütigen Folgen.

Vierte These: Wir gliedern die Rezension in zehn Thesen, weil das gerade auch im Internet funzt. Einfacher Trick: Klare Gliederung suggeriert die Möglichkeit, in wenigen Worten alles erklären und die Welt ordnen zu können, ohne zu überfordern – kurzum: Souveränität.

Fünfte These: Das ist kein Fall von kultureller Aneignung

Fünfte These: Es ist okay und jedenfalls kein Fall von kultureller Aneignung, sondern für unser Land passend, dass die Helden Tom und Louise sich in Ripperts Inszenierung kurz vor ihren Ehe-Therapiesitzungen nicht in einem Pub treffen wie im Original, sondern im nüchternen Wartebereich irgendeines Büro- und Praxengebäudes (Bühnenbild: Fabian Liszt). Da gibt es lediglich einen Automaten mit Snacks und Softdrinks, an dessen zu engem Ausgabefach Tom sich immer wieder abmüht. Die gesamte Handlung gibt nur die Wartesequenzen des zermürbten Paares vor den Sitzungen wieder, nicht diese selbst.

Sechste These:Tobias Beyer ist eine Top-Besetzung für diesen Typen namens Tom, Ende 40, Musikjournalist ohne Perspektiven in der Onlinewelt, intelligent, etwas linkisch, deprimiert und zugleich überheblich. „Wegen des Brexits“, verbessert er Louise, die aufgebracht ist „wegen dem Brexit“, als vor einer Sitzung herauskommt, dass Tom dafür gestimmt hat. „Warum???“ - „Um deine Freunde zu ärgern.“ - „Aber die wissen das doch gar nicht!“ - „Ich habe sie in dem Augenblick geärgert. Beim Abstimmen. Ich werde es ihnen nicht unter die Nase reiben.“

Angespannte Situation am Snack-Automat zwischen zwei Therapiesitzungen: Tobias Beyer (rechts) als Tom mit übellaunigem Widerpart (Ivan Markovic).
Angespannte Situation am Snack-Automat zwischen zwei Therapiesitzungen: Tobias Beyer (rechts) als Tom mit übellaunigem Widerpart (Ivan Markovic). © Björn Hickmann/ stage picture | Björn Hickmann/ stage picture

Siebte These: Louise ist im Großen etwas lax

Siebte These: Lea Sophie Salfeld harmoniert prima mit Beyer, wobei sie ja eigentlich nicht harmonieren, sondern sich ständig verhaken, in einem für viele Paare auf den Rängen genüsslich nachvollziehbaren Hickhack. Tom: im Ganzen unverbrüchlich und im Detail furchtbar uninteressiert. Louise: im Kleinen sensibel und im Großen etwas lax. Sie ist zugleich Partnerin und Gegenpart, verdient als Ärztin das Geld für die Familie, ist anders als der nerdige Tom praktisch veranlagt, genervt von seiner sarkastisch-frustrierten Selbstverkapselung und deshalb fremdgegangen. Vier mal, mit einem gewissen Mathew, wobei Louise und Tom sich uneins sind, wie das zu bewerten ist. Ver Fehltritte? Oder ein Fehltritt, dreimal wiederholt? Über solche Fragen verkeilen sie sich ständig in einem unauflösbaren Wirrwarr.

Achte These: Es ist gelungen, dass Regisseur Rippert die Nebenfiguren surreal inszeniert, die am Rande der eherealistischen Zick- und Rechtfertigungs-Duelle von Tom und Louise auftauchen. Diese Neben-Paare haben jeweils den früheren Termin bei der Therapeutin. Das erste prügelt sich anschließend fast. Innerer Triumph für Tom: „Denen geht es noch schlechter als uns.“ Zwei Sitzungen später kommen die beiden anderen aus der Therapie – und küssen sich leidenschaftlich. Spotlight auf Tom und Louise, die auf der Vierer-Wartebank mal wieder weit auseinander sitzen. Peinliches Schweigen. Herrliche Szene.

Lina Witte und Ivan Markovic als altes Paar in
Lina Witte und Ivan Markovic als altes Paar in "State of the Union" von Nick Hornby am Staatstheater Braunschweig. © Björn Hickmann/ stage picture | Björn Hickmann/ stage picture

Neunte These: Was Toms Problem im Bett ist

Neunte These: Sehr schön sind die Schlussfolgen des Abends. Während beziehungsweise vor den ersten fünf Sitzungen kippt die Stimmung immer mehr. Eiszeit, minus 90 Grad. Dann begreift Tom, dass er es ist, der sich ein bisschen bemühen muss. Er versucht es unbeholfen. Und platzt schließlich damit heraus, was das Problem ist, weshalb er nicht mehr ins Bett wollte. Das bringt neue Dynamik in die finalen Szenen. Alles scheint sich zum Guten zu wenden - nur dass Louise, die jetzt Oberwasser hat, plötzlich kompliziert wird.

Zehnte These: Es ist mutig, ein cool komisches Kammerspiel des gehobenen Boulevards auf die Bühne des ehrwürdigen Großen Hauses zu bringen. Das zielt auf die hohe Zuschauerkapazität von rund 900 Plätzen ab. Bei der Premiere am Samstagabend waren sie schon recht ordentlich gefüllt, und das Publikum ward gut unterhalten, vom zänkischen Pracht-Duo Beyer/Salfeld und den wunderbar wandlungsfähigen Kontrastfiguren (Lina Witte, Ivan Markovic), die im zweiten Auftritt als tatterig glückliches Greisenpaar daherwackeln. Das wirkt von leichter Hand gekonnt inszeniert, nicht zu dicke, mit cooler Lakonie, aber auch Temperament (Salfeld) und poetischer Duftnote. Funktioniert. In zehnmal zehn klugen, über weite Strecken kurzweiligen Minuten. Kann ein Publikumsrenner werden.