Berlin. Hat Anne Will in ihrer Sendung einer radikalen Islamistin eine Bühne geboten? Wolfgang Bosbach und das Netz jedenfalls sind sich einig.

Er wollte sie kontrollieren, sie stach zu: Der Fall von Safia S., die als damals 15-Jährige im Februar 2016 einen Bundespolizisten am Hauptbahnhof von Hannover attackierte, sorgte für Aufsehen. Er ist Teil einer größeren Entwicklung, bei der sich insbesondere junge Menschen für den radikalen Islam begeistern.

Doch wie kommt es, dass gerade Jugendliche empfänglich für die Hassbotschaften sind? Dass manche sogar nach Syrien reisen, um sich dem „Islamischen Staat“ (IS) anzuschließen? Diese Fragen stellte am Sonntagabend Anne Will unter anderem einem betroffenen Vater, einem Islamismusexperten, dem CDU-Politiker Wolfgang Bosbach und einer konvertierten Muslima.

Der Aufreger des Abends

Und diese sorgte nicht nur für den Aufreger des Abends, sondern lässt auch am Tag danach noch das Netz beben. Nora Illi, Schweizerin, Konvertitin, Frauenbeauftragte des Islamischen Zentralrats der Schweiz, vollverschleierte Nikab-Trägerin – und Propagandistin eines gewalttätigen Islams? Dieser Eindruck entstand zumindest durch einen Einspieler der Anne-Will-Redaktion.

„Muslime sind weltweit massivsten Repressionen ausgesetzt“, sagte Nora Illi in dem Einspieler. „Kein Wunder also, dass die Versuchung riesig sein muss, aus diesem Elend auszubrechen (...), um dann im gelobten Syrien gegen die Schergen Assads und für Gerechtigkeit zu kämpfen. Daran ist aus islamischer Sicht auch gar nichts auszusetzen. Eine solche Überzeugung muss man (...) als Zivilcourage hochloben“, hieß es weiter.

Das Netz gibt Bosbach recht

Allerdings, so die Einschränkung, könnten „Facebook und Youtube die brutale Kriegsrealität vor Ort nur für kurze Zeit überblenden. Bald schon wird einem angereisten Teenager klar sein, dass der Krieg nichts mit der einst in der geheizten Stube verklärten Wunschträumerei zu tun hat, sondern eine bitterharte Langzeitprüfung mit ständigen Hochs und Tiefs ist.“

Trotz der Relativierung – die Eskalation war damit perfekt. Der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach empörte sich massiv über den Einspieler: „Dieser Text verharmlost die Grausamkeit des IS. Warum wird das im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt?“ Wills Erwiderung („ Sie haben schon verstanden, dass das nicht unser Text ist!“) ließ Bosbach nicht gelten: „Aber das haben jetzt Millionen gesehen.“

Und das Netz gibt Bosbach recht. Der Tenor bei Twitter: „#annewill verkommt zur Propaganda-Sendung für den #IS“, wie dieser Nutzer schrieb:

„Wir diskutieren unsere #Werte und #Toleranz mit so einem Gast wie Fr. Illi in Grund und Boden! Unfassbar!“, meint dieser Nutzer:

Dieser Nutzer hatte dagegen seinen Spaß bei der Diskussion: „Vielleicht war die vollverschleierte Frau bei #AnneWill ja gar keine Frau sondern Günter Wallraff unterwegs in geheimer Mission.“

Ein Vater berichtet

Dabei hatte die Sendung sehr beeindruckend begonnen. Zu ihren großen Stärken gehörte, dass nicht nur über Muslime geredet wurde, sondern sie stattdessen selbst zu Wort kamen. Sascha Mané etwa erzählte, wie seine Tochter sich Stück für Stück radikalisierte. Auf das Kopftuch folgte der Nikab, schließlich ging sie mit der Familie ihres libanesischen Freundes nach Syrien. „Sie sagt, dass es ihr gut geht. Aber ich weiß nicht, ob sie es ist, die da schreibt“, sagte Mané. Als Ursache für die Radikalisierung seiner Tochter sieht er aber nicht die Religion an sich, sondern die Islamisten.

Doch warum gelingt es den Extremisten, in die Köpfe der jungen Menschen vorzudringen? Anhand der Geschichte seiner Tochter hatte Mané dafür eine ganz eigene Erklärung. „Sie sah, dass überall auf der Welt Menschen ausgebeutet werden“, sagte der Vater. Jugendliche wollten das ändern, etwas verbessern. „Das will auch der Islam, wenn man ihn richtig versteht.“ Allerdings nutzten Extremisten es aus, dass junge Menschen noch manipulierbar seien.

Das Islam-Verständnis der Nikab-Trägerin

Wie kontrovers das Thema auch unter Muslimen diskutiert wird, zeigte schon vor dem Einspieler ein Schlagabtausch zwischen Nora Illi und dem Psychologen und Ex-Islamisten Ahmad Mansour, der heute gefährdete Jugendliche berät. „Mich fasziniert am Islam seine Vielfältigkeit“, sagte Illi, die mit 16 Jahren zu der Religion fand. „Er lehnt das Judentum und das Christentum nicht ab, sondern sieht sich als Fortsetzung.“

Auch werde ihr als Frau unter Muslimen mit Respekt begegnet. Ihr Nikab sei kein Ausdruck von Unterdrückung. „Für mich bedeutet das Selbstbestimmung und Freiheit, denn ich kann so aktiv an der Gesellschaft teilhaben“, sagte Illi. Zugleich warnte sie davor, Muslime wegen ihrer Religion auszugrenzen. „Dann beginnt die Radikalisierung.“

Islamismusexperte widerspricht heftig

Diese Ausführungen brachten Ahmad Mansour auf die Palme. „Frauen mit Burka sehen in Männern ein Sexobjekt, das nicht klarkommt, wenn es Haare sieht“, sagte er mit Blick auf Illis Verschleierung. Mit ihren radikalen Ansichten entspreche sie nicht seiner Vorstellung vom Islam.

Zugleich hatte Mansour, der viele Facetten des Islam sehr kritisch sieht und der Religion etwa vorwirft, in Teilen selbst das Radikale in sich zu tragen, etwas Persönliches zur Erklärung des Phänomens beizutragen. „Diejenigen, die mich gemobbt haben, habe ich missioniert und ermahnt. Das war ein unglaublich schönes Gefühl der Macht“, berichtete Mansour aus seiner Zeit in Israel, in der er selbst den Muslimbrüdern angehörte.

Der Erkenntnisgewinn

So war der Erkenntnisgewinn der Sendung doch überraschend hoch. Es zeigte sich, dass die Ursachen für die Radikalisierung vielschichtig sind. Da sind die psychologischen Gründe wie Krisen und das Gefühl, ausgegrenzt zu sein; aber auch die Familie, das Umfeld und die Suche nach Sinn und Identität spielen eine Rolle.

Besonders stark machte die Sendung aber, dass hier überwiegend Muslime selbst über den Islam und Islamisten redeten. Und das auch direkt Betroffene wie Sascha Mané aus erster Hand berichteten. „Ich weiß nicht, ob sie zurückkehren wird. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt“, sagte Mané zum Schluss über seine Tochter.

Die Sendung ist online in der ARD-Mediathek zu sehen.