Göttingen. Ursula Dorn ist ein Wolfskind: Als Zehnjährige floh sie mit ihrer Mutter nach dem Krieg vor dem Hungertod aus dem ostpreußischen Königsberg.

Ursula Dorn war zehn Jahre alt, als ihre Kindheit endete. Da hatten sie und ihre Geschwister schon mehrere Jahre als „Kellerkinder“ während des Zweiten Weltkriegs hinter sich. Dorn war ein sogenanntes „Wolfskind“, das erst Teile seiner Familie, dann die deutsche Sprache und schließlich fast die eigene Identität verlor.

Wolfskinder sind meist anhanglose Kinder und Jugendliche, die aus dem nördlichen Ostpreußen stammen und nach dem Zweiten Weltkrieg nach Litauen flohen, um dem Hungertod zu entgehen. Dafür mussten sie ihre deutsche Herkunft zeitweise oder mit Hilfe einer neuen Identität dauerhaft aufgeben.

Über die Zeit als Wolfskind hat Ursula Dorn mit niemandem gesprochen, mehr als 30 Jahre lang nicht. Erst mit dem Ende der deutschen Teilung begann sie, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, indem sie ihre Geschichte aufschrieb. „Als die Wende 1989 kam, dachte ich: Jetzt ist der Punkt, wo alles raus muss. Vorher war ich hermetisch zu.“ Das Schreiben habe ihr geholfen, das Erlebte greifbar zu machen.

1945 lebte Ursula Dorn mit ihren Geschwistern und der Mutter in Königsberg, der östlichsten Provinz des Deutschen Reiches. Ihr Vater war aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Dorn hat ihn nur vier Jahre gekannt. „Wir sind eine Generation ohne Väter“, sagt sie.

Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Königsberg war die Stadt vollständig geplündert worden und es hatte zahlreiche Brände gegeben. In der Folge gab es nichts zu essen und zu trinken mehr, selbst das sowjetische Militär habe sich kaum versorgen können, berichtet sie.

Die Kinder der Stadt begannen schnell, zu betteln. Um sich zu versorgen, waren die Menschen auf Brotkarten angewiesen, aber nur wer arbeitete, bekam eine solche. Eine Chance, Ostpreußen in Richtung Deutschland zu verlassen, gab es kaum, die Grenzen waren dicht.

Hungerwinter 1946

Im Winter 1946 war der Hunger schließlich so schlimm, dass alles gegessen wurde, dessen die Menschen habhaft werden konnten. Der quälende Hunger trieb die Menschen fast in den Wahnsinn verdrängte alles andere.

Ursula Dorn und ihre Geschwister machten sich jeden Morgen auf, um zu betteln. Was sie dort sah, verfolgt sie bis heute. „Überall waren Tote in den Straßen. Ich habe erfrorene Säuglinge in Kinderwagen gesehen, wenn ich morgens zum Betteln gegangen bin“, erzählt sie. „Die Menschen starben wie die Fliegen.“

Dabei ging jeder für sich und die Kinder isolierten sich zunehmend von ihren Angehörigen. „Je mehr wir auf den Straßen lebten, umso härter wurden wir gegeneinander“, sagt sie. Dieses zurückgeworfen sein auf sich selbst und die Verantwortung, die auf ihnen lastete, für die jüngeren Geschwister und die Mütter zu sorgen, die sich aus Angst vor Vergewaltigungen kaum auf die Straßen trauten, gab vielen Kindern das Gefühl von Verlorensein. „Wir waren erwachsene Menschen, wir waren keine Kinder, weil wir auf uns selbst angewiesen waren“, sagt Dorn.

Die Auswirkungen, die der Hunger auf die Menschen hatte, der Verlust von Geschwistern und Müttern und den eigenen Tod immer vor Augen zu haben, resultierte in einem Zustand, der die Kinder erst zu Wolfskindern werden ließ. Die eigene Familie zurückzulassen, um in ein fremdes Land zu gelangen, dessen Sprache sie nicht mächtig waren, schien ihnen erträglicher, als zu bleiben. „Wenn man den Tod vor Augen hat, ist alles möglich, dann kennst du keinen Vater, keine Mutter und keine Geschwister mehr, dann kämpfst du nur noch für dich allein. Das habe ich erfahren und viele andere auch“, sagt Dorn.

Flucht nach Litauen

105000 deutsche Zivilisten, etwa die Hälfte der Bevölkerung im Königsberger Gebiet, starben im nördlichen Ostpreußen nach der sowjetischen Besetzung. In dieser Zeit kam unter den Menschen das Gerücht um Litauen auf, wo es genug zu essen geben sollte.

„Ich dachte jeden Tag, wenn ich so unterwegs war, wann ist der Tag, an dem ich selber sterben müsste. Ich bekam immer mehr Angst“, schildert Dorn ihre Verzweiflung. Sie habe nur noch ihr eigenes Leben retten wollen. Deshalb hat sie sich eines Tages in einen Waggon geschmuggelt und ist nach Litauen gefahren. Vier Wochen durfte sie sich bei einem Lehrer und seiner Familie erholen, bevor sie mit Lebensmitteln zurück nach Hause fuhr.

Alle in ihrer Familie waren sehr krank und konnten sich vor lauter Unterernährung und Hunger kaum noch bewegen. „Ulla, wo warst du? Wir dachten schon alle, du wärest gestorben“, begrüßte sie ihre Mutter. Dorn überredete ihre Mutter, mit ihr nach Litauen zurückzufahren. Ihre Geschwister mussten sie zurücklassen. Sie waren schon zu schwach für die Reise. Eine Nachbarin sollte für ein paar Tage auf die Kinder aufpassen. Aus den geplanten Tagen in Litauen wurden Jahre, in denen sie nicht zurückkehren konnten. Die verstärkte Bewachung der Versorgungszüge habe es ihnen unmöglich gemacht, nach Königsberg zurückzugelangen. Ein Bruder und die Schwester verhungerten, nachdem Dorn die Stadt mit ihrer Mutter verlassen hatte. Erfahren hat sie dies erst Jahre später von ihrem Bruder Hans, der als einziger überlebte.

Dass Ursula Dorn beim zweiten Mal gemeinsam mit ihrer Mutter nach Litauen floh, hielt den Entfremdungsprozess von Mutter und Tochter nicht auf. Selbst Kinder wie sie, die mit Mutter oder Geschwistern nach Litauen kamen, konnten sich dem fortschreitenden Prozess der Vereinsamung nicht entziehen. Diejenigen, die es ins Nachbarland schafften, erwartete dort auch kein Frieden. Litauische Partisanen kämpften gegen die sowjetische Armee und versuchten, sich gegen die erneute Besetzung zu wehren. Die Kinder konzentrierten sich darauf, ihre Vergangenheit loszulassen, sie zu verdrängen, sich anzupassen und nach vorne zu schauen.

Viele Kinder, die nach Litauen kamen, verloren so nicht nur ihre Angehörigen, sondern auch ihre Identität. Sie waren nicht nur entwurzelt, sondern mussten sich teilweise unter enormen Druck an das Leben in Litauen anpassen. Dazu gehörte es, die deutsche Sprache aufzugeben, einen litauischen Namen anzunehmen und häufig, sich von eigenen Geschwistern zu trennen, die nicht auf demselben Hof unterkommen konnten. Manche Kinder waren noch so jung, dass sie schnell adoptiert wurden und ihr vorheriges Leben gänzlich vergaßen. Für alle anderen waren Essen und eine Bleibe wichtiger als die eigene Herkunft. Dafür mussten sie zum Teil schwere körperliche Arbeit auf den Höfen verrichten. Ursula Dorn und ihre Mutter hatten Glück, die meisten Litauer waren freundlich zu ihnen und obwohl selber arm, gaben sie ihnen oft ein Stück Brot oder etwas Milch.

Ihr Leben war von der Suche nach Essen und Unterkunft bestimmt. Im Sommer lebten sie in der freien Natur, schliefen im Wald oder in Strohballen auf dem Feld, im Winter in Ställen oder Scheunen, wenn es ihnen erlaubt wurde. Trotzdem waren sie „jedem Wetter ausgesetzt und nirgends zu Hause“, schreibt Dorn in ihrem Buch. Sie und ihre Mutter zogen wie Vagabunden durch die Gegend. „Wir waren wie Tiere, die keine Orientierung hatten.“ Unterwegs habe sie immer wieder verwahrloste deutsche Kinder getroffen, die ganz auf sich selbst angewiesen waren.

Geschwister sind verhungert

Die Ungewissheit, was aus ihren Geschwistern geworden war, belastete sie sehr. Ihre Mutter hatte Alpträume von den zurückgelassenen Kindern. Eine Tante, die sie in zufällig in Litauen trafen, erzählte ihnen, dass alle gestorben seien. Dorn konnte den Tod der Geschwister nicht begreifen. „Ich war wie ausgehöhlt und habe nur geweint.“ Von ihrer Mutter habe sie die Trauer nur noch weiter entfernt. „Plötzlich hatte ich für meine Mutter kein Gefühl mehr übrig“, sagt sie. An keinem Ort konnten sie länger bleiben, aus Angst entdeckt zu werden. „Wir kamen uns vor wie Ratten, immer auf der Flucht vor irgendwas.“ Ihr Zeitgefühl ging vollständig verloren. Sie wussten weder, welchen Tag oder Monat gerade war. „Wir waren halt keine Menschen mehr, nur noch Wolfskinder, die sich im Kreis drehten oder umherliefen.“

Die litauische Sprache lernte Dorn schnell, meist war sie es, die um Essen bettelte, während ihre Mutter sich im Hintergrund hielt. Ein Müller, bei dem sie vorstellig werden, fragt Dorns Mutter, ob das Kind nicht bei ihm und seiner Frau bleiben könne. Doch Ursula Dorn ist es, die entscheidet. Sie bettelt ihre Mutter an, sie dort zu lassen. „Ich wollte nicht mehr durch die Lande ziehen, ich wollte nicht mehr hungern, ich wollte endlich mal wieder ein Dach über dem Kopf haben.“

Trennung von der Mutter

Dorn blieb und durfte ab sofort kein Deutsch mehr sprechen. Dass sie plötzlich eine Bleibe hatte, habe sie kaum fassen können. Sie verabschiedete sich von ihrer Mutter, die alleine weiterzog. Die Trennung sei ihr zunächst nicht schwer gefallen. „Endlich fühlte ich mich wieder als Mensch und wollte alles andere verdrängen.“

Sechs Monate lebt und arbeitet Ursula Dorn bei dem Müller. Sie interessiert sich für die kulturellen Bräuche und lernt Kirchenlieder und Weben. Währenddessen sah sie ihre Mutter ein- oder zweimal, aber nie für länger. Nach diesem halben Jahr kam ihre Mutter völlig entkräftet auf den Hof und wollte ihre Tochter mitnehmen, weil sie gehört hatte, dass Transporte nach Deutschland organisiert wurden, die die bettelnden Ostpreußen dorthin bringen sollten. Doch Dorn wollte nicht mitgehen. „Wir standen uns beide weinend gegenüber und ich konnte es nicht begreifen, wie fremd wir uns geworden waren.“ Auf Drängen ihrer Mutter, sie müssten jetzt zusammenbleiben, ging sie dann doch mit. Ein paar Tage später wurden sie von Soldaten mitgenommen und in einen Zug gesetzt, ohne zu wissen, wo sie hinkommen. Nach Tagen kamen sie völlig entkräftet in der DDR an.

Ursula Dorn lebt heute in der Nähe von Göttingen. Sie hat zwei Bücher über ihre Erlebnisse geschrieben, die sie bis heute nicht loslassen. Am 28. Oktober wird sie im Café Lindner in Göttingen daraus vorlesen.