Woking. McLaren geht mit dem 720S als erstem Neuen in die zweite Runde. Ein Sportler für Stadt, Landstraße und Rennstrecke.

Nach drei Jahren in den schwarzen Zahlen, in sechs Jahren 10 000 Autos verkauft und aus dem Stand auf Augenhöhe mit Porsche, Ferrari und Lamborghini – wo andere vor dem „verflixten siebten Jahr“ bangen, kann McLaren ganz entspannt in die Zukunft schauen. Denn nachdem die Briten beim Wechsel von der Rennstrecke auf die Straße einen guten Start hingelegt haben, wollen sie jetzt mit dem neuen und fast eine Viertelmillion Euro teuren 720S beweisen, dass sie keine rasenden Eintagsfliegen bauen.

Für das erste Modell der zweiten Generation haben sie ihren Baukasten kräftig auf Vordermann gebracht: Die Karbonstruktur der Karosserie ist steifer, leichter und geräumiger geworden, das siebenstufige Doppelkupplungsgetriebe schaltet schneller und feinfühliger, am Motor ist kaum ein Teil unberührt geblieben. Deshalb wurde nicht nur der Hubraum von 3,8 auf 4,0 Liter vergrößert, es gibt auch neue Lader mit kürzeren Ansprechzeiten, neue Zylinder, neue Ventile – und natürlich neue Eckdaten. So kletterte das maximale Drehmoment auf 770 Nm und die Leistung –
nomen es omen – auf 720 PS.

Und damit niemand die Evolution bei der Technik zu gering schätzt, haben sie den Wagen spektakulär neu eingekleidet. „Wir wollten, dass er schon im Stand aussieht wie bei 200 km/h“, sagt Designchef Rob Melville über das kaum 1,20 Meter flache Fahrzeug mit der Kanzel eines Kampfjets und einer Karosserie aus dem Windkanal. Dabei schindet der 720S zwar mächtig Eindruck, lässt sich aber nicht zu billigen Showeffekten herab. Jedes Detail in der Formgebung ist nur Verpackung für eine Funktion: Die tiefen Höhlen zum Beispiel, in denen die Scheinwerfer liegen, dienen genauso der Luftführung wie die zweite Haut auf den Flanken und machen bis auf die riesige Air-Brake am Heck alle Schweller und Spoiler überflüssig. Und die weit ins Dach gerückten Flügeltüren fangen nicht nur alle Blicke ein, sondern erleichtern auch den Zustieg und brauchen weniger Platz in engen Parklücken.

Er will trotz des sportlichen Designs alltagstauglich sein

Der Motor stärker, die Karosserie leichter, das adaptive Fahrwerk schneller, die Aerodynamik besser und die Elektronik intelligenter – so führt man den McLaren fast mit dem kleinen Finger an den Grenzbereich. Sowohl auf der Landstraße als auch auf der Rennstrecke macht der Sportler eine gute Figur. Dabei ist es weniger die Längsbeschleunigung, durch die einen dieses Auto beeindruckt. Es ist vor allem die stoische Ruhe, mit der man diesen Wagen näher ans Limit bringen kann. Als hielte eine übersinnliche Macht alle Querkraft im Zaum, schwebt er wie von Zauberhand durch die Kurven. Dabei macht einem der McLaren diese Grenzerfahrung denkbar leicht. Denn solange man die Finger von der Variable Drift Control lässt, mit der man schrittweise die Maschen im Sicherheitsnetz vergrößern und den Abrieb der Reifen steigern kann, gibt es in diesem Auto nichts, was ein schnelles Fortkommen behindert – selbst das Cockpit macht sich klein und zieht sich, bis auf einen schmalen Display-Streifen, in die Hutze hinter dem Lenkrad zurück, wenn man in den Track-Modus wechselt und das Auge an die Ideallinie heftet.

Zwar ist der 720S tatsächlich noch einmal stärker, schärfer und schneller geworden. Und auch wenn er selbst unter verschärften Bedingungen lange nicht so viel Spektakel macht wie ein Ferrari oder Lamborghini, ist der Engländer in Eile den Italienern auf der Rennstrecke und der Landstraße mehr als ebenbürtig. Doch was ihn vor allem von seinen Konkurrenten und auch von seinem Vorgänger abhebt, das ist sein deutlich höheres Maß an Alltagstauglichkeit. Das gilt für den Fahrkomfort auf schlechten Straßen bis hin zum Kopfsteinpflaster verwinkelter Altstädte genauso wie für das Infotainment und die Assistenzsysteme, die Platzverhältnisse für die Passagiere und mehr noch den Stauraum fürs Gepäck. Nicht umsonst gibt es zu den 150 Litern im Bug noch einmal 210 Liter Ladevolumen auf der Pritsche hinter den Sitzen, die sich über den Mittelmotor legt. Vor allem aber gilt das für die Übersicht, die man in diesem Auto genießt. Denn wo man in anderen Supersportwagen wie durch Scheuklappen sieht und sich nur nach vorn fixiert, kann man aus dem McLaren nach allen Seiten hin besser sehen als aus manch einem Roadster und behält so stets den Überblick.

Er fährt schneller als je zuvor, sieht besser aus und ist obendrein auch noch das praktischere Auto – dass der 720S dabei mit 247 350 Euro auch deutlich teurer geworden ist als der Vorgänger 650S, scheint die Käufer offenbar gar nicht zu stören. Denn obwohl ihn bislang kaum ein Kunde gesehen, geschweige denn gefahren hat, haben die Briten bereits 1400 Bestellungen in den Büchern. Die Produktion ist damit für den Rest des Jahres längst ausverkauft.