Braunschweig. Notaufnahmen und Rettungsdienst sind zwar digital vernetzt: Doch was geschieht, wenn alle Kliniken im Umkreis Überlastung anzeigen?

Kurz nach zehn an diesem Vormittag stehen auf dem Display des Rettungsdienstes alle fünf Notaufnahmen in Braunschweig, Peine und Wolfenbüttel auf Rot. Aufnahmestopp? Dr. Andreas Höft, Ärztlicher Leiter des Braunschweiger Rettungsdienstes, beruhigt. „Rot bedeutet nicht, dass der Rettungsdienst die Krankenhäuser nicht anfahren kann.“ Aber es bedeutet, dass es eng wird in den Notaufnahmen.

Seit Anfang 2020 das System Ivena (Interdisziplinärer Versorgungsnachweis) in Braunschweig eingeführt wurde, sind Leitstellen und Krankenhäuser untereinander vernetzt. Der Besatzung eines Rettungswagens soll dies erleichtern, schnell ein passendes Krankenhaus mit freien Kapazitäten zu finden und anzusteuern.

Stehen alle Notaufnahmen auf Rot, greift Steuerung nicht mehr

Doch berge dieses System auch Probleme, so Thu Trang Tran, Sprecherin des Braunschweiger Klinikums. „Schalten sich alle Kliniken im Umkreis des Rettungsdienstes bis auf eine Klinik auf Rot, wird diese Klinik eventuell von allen Rettungsmitteln angefahren und kommt in eine akute Überlastung.“ Stünden alle Notaufnahmen auf Rot, fehle dem Rettungsdienst das Steuerungsinstrument.

Braunschweiger Rettungsdienst: Immer mehr Hilferufe

Rund 40.000 Notfall-Patienten, die die 112 gewählt haben, liefert der Rettungsdienst in Braunschweig jährlich in Krankenhäuser ein. Vor fünf Jahren waren es noch 30.000. Trotz dieser Zunahme machen sie nur einen Bruchteil der Patienten in den Notaufnahmen aus. „80 Prozent kommen fußläufig“, weiß Höft.

Ivena spiegelt zumindest stundenweise ein Dilemma, das auch der Rettungsdienst zu spüren bekommt: „Es gibt zu viele Hilferufe für zu wenig Behandlungskapazität.“ Und das, obwohl in Braunschweig inzwischen nicht nur das Städtische Klinikum als Maximalversorger, sondern auch Marienstift und Herzogin-Elisabeth-Hospital rund um die Uhr Notfall-Patienten aufnehmen.

Dank Ivena ist die aktuelle Belastung der Notaufnahmen auf einen Blick zu erkennen. Man könne sich das vorstellen wie bei Booking.com. Da werde auch angezeigt, wenn gerade das letzte Zimmer belegt worden sei, sagt Mathias John, bei der Braunschweiger Berufsfeuerwehr für die Organisation des Rettungsdienstes verantwortlich.

Zur Integrierten Leitstelle Braunschweig – Wolfenbüttel – Peine gehören die Notaufnahmen aller fünf Krankenhäuser in den drei Städten. In den Ampelfarben Rot, Gelb und Grün zeigen die Kliniken ihre aktuelle Belastung an. Abmelden von der Notversorgung könnten sich die Krankenhäuser laut Gesetz aber nicht, betont Höft. Zur Erstbehandlung von kritischen Notfällen sind alle Krankenhäuser verpflichtet.

Klinikum: Bei Überlastung wird nach Dringlichkeit entschieden

„Der Rettungsdienst darf beziehungsweise muss je nach Zustand des Patienten auch eine auf Rot geschaltete Notaufnahme anfahren“, bestätigt Klinikum-Sprecherin Tran. Befinde sich ein Patient nach Sichtung in einem unkritischen Zustand, könne er auch weiterverlegt werden. „In der Überbelastungssituation muss bei kritischen Patienten die Triagierung greifen.“ Das bedeutet: Über die Reihenfolge der Behandlung wird nach Dringlichkeit entschieden.

Es geht nicht nur um freie Kapazitäten. Anhand der Diagnose filtert Ivena auch die geeigneten Krankenhäuser heraus. Der Rettungsdienst wiederum kündigt digital an, in welchem Zustand sich der einzuliefernde Patient befindet – auch dies nach dem Ampelsystem. Rot bedeutet: Lebensgefahr.

An diesem Tag hat der Rettungsdienst bis zum frühen Nachmittag schon 19 Patienten in die Internistische Notaufnahme des Klinikums Salzdahlumer Straße eingeliefert. Da ahne man, dass jetzt Betten auf den Fluren stünden und die Pflegekräfte seit sechs Stunden nichts getrunken hätten – und es womöglich mehr Sinn mache, den 20. Patienten in die Nachbarstadt zu fahren, wenn dort die Belastung gerade deutlich geringer sei, so Höft. Stünden alle auf Rot, „fahren wir trotzdem“. Zur Not bis nach Gifhorn oder Wolfburg.

Rettungswagen durch Wartezeiten blockiert

Engpässe in den Notaufnahmen können zur Kettenreaktion führen. John zeigt ein Foto, auf dem sich 14 Rettungswagen vorm Krankenhaus Stoßstange an Stoßstange stauen. Manchmal sei es schon paradox, meint er: Der Rettungsdienst fahre einen Patienten mit Blaulicht ins Krankenhaus und müsse dann vor der Klinik 15 Minuten warten – wodurch sich auch Einsatzzeiten verlängerten und Ressourcen verloren gingen.

Es sei eine Herausforderung, aber bislang schaffe es der Rettungsdienst noch, die Hilfsfristen einzuhalten. Sprich: innerhalb von 15 Minuten vor Ort zu sein.

Die steigende Belastung des Notfall-Systems führt Dr. Andreas Höft nicht nur auf die alternde Bevölkerung zurück. „Wir bringen viele Patienten ins Krankenhaus, die kurz darauf wieder entlassen werden.“ Für den Arzt ist das ein Indiz dafür, dass diese Patienten ebenso hätten ambulant behandelt werden können und jedenfalls kein Fall für den Rettungsdienst waren.

Von einem Missbrauch der Notfallrettung will der Ärztliche Leiter in den meisten Fällen gleichwohl nicht sprechen. „Menschen machen sich Sorgen und rufen die 112 an“, stellt auch Mathias John eine Zunahme gerade solcher Patienten fest, für die ein Rettungsdienst-Einsatz gar nicht erforderlich gewesen wäre. „Aber viele vertrauen dem Rettungsdienst.“

Leiter Rettungsdienst: „Gestiegene Ansprüche ans Gesundheitssystem“

Damit einher gehen aus Höfts Sicht hohe Erwartungen an das Gesundheitssystem. „Seit 10, 15 Jahren wird versucht, steigende Ansprüche mit mehr Leistungen zu beantworten.“ Diese Spirale dürfe nicht immer weiter nach oben geschraubt werden. „Wir müssen über neue Wege nachdenken, um eine falsche Inanspruchnahme zu senken.“

Einen solchen Weg sieht Höft in einer besseren Patientensteuerung. In der ambulanten und stationären Notfallversorgung träfen unterschiedliche Systeme aufeinander, die nicht synchronisiert seien. Sie müssten enger miteinander verzahnt werden. Zudem sei eine Stärkung der Tele-Notfallmedizin im Gespräch, wenn es etwa um die Frage einer Krankenhaus-Einweisung gehe. Dann würden am Ende auch die Ampeln der Notaufnahmen seltener auf Rot stehen.

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